Wenn die Irren gar nicht die Irren sind
„Was einmal gedacht ist, wird auch gemacht.“ Lässt sich der Missbrauch von Wissenschaft verhindern? Oder geraten die Erkenntnisse immer auch in die falschen Hände? Am Wochenende wagten 15 Schüler des Tulla-Theaters unter der Leitung von Martina Kaltenbach nach wochenlanger intensiver Probenarbeit mit Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ erstmals den Sprung in die große Theaterwelt.
Rund 200 Besucher erlebten am Freitagabend bei freiem Eintritt in der Schulaula die gefeierte Premiere der 1961 entstandenen Tragikomödie. Der Schweizer Dramatiker mit Hang zum Grotesken und Absurden hatte das mahnende Stück, das die zeitlos aktuelle Frage nach der ethischen Verantwortung der Wissenschaft für ihre Erkenntnisse und deren Verwendung stellt, vor dem Hintergrund des atomaren Wettrüstens in der Hochphase des „Kalten Krieges“ verfasst. Am Samstag wurden „Die Physiker“ erneut aufgeführt. Für viele der jungen Akteure aus der Klassenstufe acht bis zur Kursstufe zwei war es nach den Jugendstücken „Lara Kraft oder Wer ist die Schönste im WWW“ und „Räuber. Schiller für uns“ bereits die dritte Produktion, an der sie mitwirkten. Auf einer Bühne mit Sofa, Sesseln, Tisch, Stehlampe und Staffelei mit Ahnen-Porträts überzeugten sie in einer traditionellen Inszenierung durch Spielfreude und Textsicherheit. Souffleuse Santou Hima Oumarou war quasi arbeitslos. Dafür hatte Richard Voß (Kristofer Schok) in den zwei Stunden umso mehr zu tun. Der Kriminalinspektor bekommt es in einer einst feudalen Villa, die jetzt Teil eines Privatsanatoriums ist, nacheinander mit drei Mordfällen zu tun. Als Killer entpuppen sich drei offenbar wahnsinnige Physiker, die ihre sie liebenden Pflegerinnen um die Ecke bringen. Der eine behauptet Albert Einstein (Selen Akbulut) zu sein, der andere Isaac Newton (Fabian Thomas). Und dem Dritten, Johann Wilhelm Möbius (Leonie Hürst), erscheint angeblich König Salomo. Geleitet wird das Irrenhaus von der Psychiaterin Mathilde von Zahnd (Silke Herp). Die bucklige alte Jungfer gibt die mütterliche Samariterin und suggeriert dem Inspektor, die Morde seien auf die Arbeit der Physiker mit radioaktiven Stoffen zurückzuführen und somit „Taten“ von Kranken. In Wahrheit morden, Pardon „töten“ die Physiker aber nicht, weil sie krank sind, sondern weil sie um ihre Geheimnisse fürchten. Einstein und Newton sind Agenten rivalisierender Geheimdienste. Sie wollen in den Besitz der von Möbius entdeckten „Weltformel“ gelangen, die in den falschen Händen zur Vernichtung der Menschheit führen könnte. Genau davor will Möbius die Welt bewahren. Dafür inszeniert er bei einem Besuch seiner Ex-Frau Lina Rose (Lea Herold), deren Neu-Ehemann, Missionar Oskar Rose (Natalie Tschierske), und Möbius’ drei Kindern (Malena Hürst, Svea Kaspryk und Annina Wissert, die auch die Polizisten verkörpern) einen apokalyptischen König Salomo-Vortrag. Um nicht in „Freiheit“ zu gelangen und die Menschheit zu gefährden, erdrosselt er seine Pflegerin Monika Stettler (Klara Müller) und vernichtet seine „Weltformel“. Es gelingt ihm sogar einen Pakt mit Newton und Einstein zu schließen, doch zu spät: Das Stück nimmt ganz nach Dürrenmatts Dramentheorie die „schlimmstmögliche Wendung“: Die Irrenärztin ist die einzig wirkliche Irre. Im Gegensatz zu Möbius glaubt Zahnd tatsächlich im Auftrag König Salomos zu handeln. Sie hat die Formel kopiert und will damit die Weltherrschaft erringen. Die als verrückt gebrandmarkten Physiker bleiben im Irrenhaus und können die Pläne der Wahnsinnigen nicht verhindern.
Ralf Joachim Kraft (BNN, 27.11.2017)
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